Nesthaken

Gerade stand ich vollständig bekleidet unter der Dusche. Das Baby hatte sich schwallartig auf mich erbrochen, weil es meinen Bemühungen einen Body ans Kind zu bringen mit atemlosen Wutgebrüll begegnete, bis eben zorniges Erbrechen einsetzte. Nun, die Ausmaße waren so umfassend, dass es nicht mehr möglich war ohne alle ästhetischen Grenzen niederzureißen, die Kleidung abzulegen. Es ist doch erstaunlich, wie ein völliges Chaos in plötzliche Stille übergehen kann. Während ich erstarrt mit dem Baby im Arm auf dem Bett saß und krampfhaft überlegte, ob ich was wie tun könne, während angedautes Brot durch mein Shirt sickerte, ereiferte sich der Terrorzwerg Rettungsmaßnahmen einzuleiten. Mit den Worten: “Wir müssen Mama retten!” stürzte er aus dem Schlafzimmer und etwa dreißig Sekunden später bewarf er mich aus gebührendem Sicherheitsabstand mit drei hektisch abgefetzten Blatt Klopapier. Der Mittlere brach vor Lachen zusammen, das Baby blickte immer noch mit einer Mischung aus Stolz und echter Überraschung auf den fabrizierten Auswurf und ich konnte mich endlich dazu durchringen die Jungs loszuschicken ihren Vater dazu zu holen. Nach Übernahme des Babys durch eben jenen folgte dann die Dusche in vollständiger Bekleidung, wo ich darüber sinierte, wie die Brüder ihren jüngsten Nachfolger begreifen könnten. Am ehesten wohl als Naturkatastrophe – unberechenbar, nicht zu kalkulieren und mit erstaunlicher Schadensbilanz in materieller, ideeller und emotionaler Hinsicht. Zudem ist die Haftungsfrage ungeklärt – die Eltern sprechen immer von fehlender Einsichtsfähigkeit des Babys, weswegen seine Taten ohne Konsequenz bleiben und stets mit nur wenig Wiedergutmachung beim Geschädigten einhergehen. Auch wird die Bezeichnung “Baby” durchaus überstrapaziert. Unser Jüngster ist mehr der Typ Türsteher – groß, breit, unglaublich stark. Um jeden Zweikampf sicher zu gewinnen hat er sich in den ersten Lebensmonaten bereits das komplette Gebiss wachsen lassen und er schreckt nicht davor zurück dieses effektiv einzusetzen. Eine Zeitlang konnte ich anhand der erlittenen Bissverletzungen im verlorenen Nahkampf den aktuellen Zahnstatus meines Kindes überprüfen. Mit jedem zusätzlichen Abdruck konnten wir perspektivisch auf bessere, weil vielleicht ruhigere Nächte hoffen.

Und jetzt stellt sich die Frage, ob es nicht an der Zeit ist liebgewonnene Kosenamen abzulegen. Auch die anderen drei werden bereits seit Ewigkeiten nicht mehr Schnubbi, Froschi und Bärchen gerufen – auch wenn ich in besonders fiesen Momenten darüber nachdenke diese zur rechten Zeit noch einmal aufleben zu lassen… eine Schulentlassfeier wäre doch ganz wunderbar dafür geeignet.

Sollen wir das Baby jetzt wirklich nicht mehr Babylein rufen? Elternschaft hat doch sehr viel mit Abschiednehmen zu tun. Die Kinder wachsen, entwickeln sich, werden erst selbständig und dann unabhängig und irgendwie muss man sich selbst drumherum mitentwickeln, sich auch wieder verselbständigen und die eigene Unabhängigkeit zurück gewinnen. Die Jungen streben, die Alten suchen.

Vielleicht ist es aber auch das Schicksal der Familienjüngsten, dass sie ihre Rolle erst sehr spät verlassen dürfen… ich glaub, ich bleib noch ein bißchen bei Babylein!

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