„Oh-oh“

Es ist eine besondere Zeit, in der wir gerade leben. Der Corona-Virus erschüttert die Welt und verunsichert den einzelnen. Schutzmaßnahmen werden eingeleitet, wie man es sich nicht hätte träumen lassen. Und als allererste Maßnahme wurden die Schulen und Kindergärten geschlossen. Danach die Spielplätze. Ich glaube sogar noch vor den Bordellen.

Jetzt gibt es das eine Problem, dass natürlich kein Elternteil 24 Stunden am Tag mit der eigenen Brut verbringen möchte. Außerdem stehen die Existenzen unzähliger Familien auf dem Spiel, wenn man nur über unbezahlten Urlaub noch Kinderbetreuung gewährleisten kann. Denn Essen und Wohnen kosten meines Wissens nach immer noch Geld.

Das andere Problem aber ist kein familiäres, sondern ein gesamtgesellschaftliches. Nämlich das der plötzlichen Kinderfeindlichkeit. Wie auch immer sich die kinderlosen Menschen das Leben von Familien mit Kindern so vorstellen, es muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass man tatsächlich auch Kinder zu bestimmten Alltagsverrichtungen mitnehmen muss. Einkaufen ist so ein Alltagsgeschäft. Die Kinder sind alle zu Hause und müssen versorgt werden. Mit dem Essen, das wegen der Hamsterkäufe von völlig Verrückten eben nicht sinnvoll bevorratet werden konnte, sondern in verfügbaren Kleinstmengen täglich gekauft werden muss und bezahlt wird von dem letzten Geld, welches der andere Elternteil gerade allein erwirtschaften muss. Jetzt ist es so: unter einem bestimmten Alter kann man seine Kinder nicht alleine zu Hause lassen. Es sei denn, man verfügt über einen schalldichten, vollständig gekachelten Kellerraum. Da die Jugendämter vermutlich zur Zeit von Hausbesuchen absehen eventuell sogar ein gangbarer Weg.

Bis man seinen Keller entsprechend umgebaut hat, muss man die Kinder zum Einkaufen mitnehmen. Die Stimmungslage verändert sich, angekommen im Supermarkt, schlagartig. Und zwar bei allen Kundinnen und Kunden. Kinder! Die Hauptüberträger der Superseuche! In freier Wildbahn! Wie kann man das zulassen, dass sich die Keimschleudern unserer Gesellschaft noch frei bewegen dürfen? Mit angewidertem Blick und zornfunkelnden Augen wird man während seines Einkaufs betrachtet, als hätte man soeben ein Patent für eine Massenvernichtungswaffe angemeldet.

Meinen ganz persönlichen Lieblingsmoment erlebte ich aber erst gestern in einem Schuhgeschäft. Nachdem die Landesregierung angekündigt hatte das Maßnahmenpaket zu erweitern und das öffentliche Leben noch mehr einzuschränken, wurde mir schrecklich bewusst, dass alle meine Kinder noch ihre Winterschuhe trugen, die bei einem der Jungs auch schon Blasen verursachten, weil er herausgewachsen war. Was, wenn die Schuhgschäfte schlössen? Man kann zwar online alles kaufen – Kinderschuhe gehören aber definitiv nicht dazu. Also karre ich nach der Arbeit alle Kinder zu einem großen Schuhgeschäft und vermesse die aktuellen Größenverhältnisse von vier Fußpaaren. Danach geht es in die Findungsphase. Die Pubertät ist selbständig und wird bald fündig, der Mittlere stellt nach Sichtung aller verfügbaren 374 Paar Schuhe in seiner Größe fest, dass für ihn leider nichts dabei sei, der Terrorzwerg probiert begeistert alles an, was ich ihm hinlege und der Nesthaken rennt durch die Gänge und entwendet zu meinem großen Unglück Schuhe aus den Regalen, die ich ihm unter Protestgebrüll abringe und wieder einsortiere. Als die Pubertät gerade zurückkehrt, um mein Urteil über die getroffenen Auswahl einzuholen, passiert das Unglück. Der Nesthaken schmeißt sich mit Anlauf in einen Schuhkartonturm. Dreißig Kartons inklusive Schuhen fliegen laut krachend durch den Laden. Ich ergreife den Missetäter, seine Geschwister eilen bestürzt herbei und beginnen das Schuhchaos wieder zu richten. Unterdessen nähert sich eine vollständig aufgebrachte Verkäuferin laut telefonierend dem Schauplatz der Frevelei und ruft in den Hörer, dass das so nicht weiter gehen könne hier und die Leute jetzt mit ihren Kindern schon ins Schuhgeschäft kämen, weil die Spielplätze gesperrt seien! Ich kann gar nicht glauben, was ich höre, blicke auf und stelle an dem hasserfüllten Blick, der auf mir ruht, fest: sie meint mich! Offenbar informiert sie gerade die Filialleitung, oder wen auch immer über meinen Besuch im Geschäft. Auch sie empfindet unsere Anwesenheit als lebensbedrohlich. Als Krankenschwester führe ich eine kurze Bewertung der auffälligsten Merkmale der Schuhverkäuferin durch und komme zu dem Ergebnis, dass Körperlänge und Körperumfang in einem mehr als deutlichen Missverhältnis stehen und der Zustand der Haut den Rückschluss zulassen könnte, dass ein Nikotinabusus unterstellt werden darf. Damit sind die besten Voraussetzungen für schwere Herz-Kreislauferkrankungen in jahrelanger Kleinstarbeit geschaffen worden. Wer so schlecht mit der Gesunderhaltung seines Körpers umgeht, hat kein Verständnis für medizinische Zusammenhänge und bringt vermutlich auch keine Basis mit für eine sachdienliche Auseinandersetzung. Sonst würde ich ihr nämlich an dieser Stelle sagen, dass meines Wissens nach der Virus nicht durch die vielfliegenden, globalisierungsaffinen Kinder ins Land geschleppt wurde und die berühmteste Karnevalssitzung Deutschlands auch nicht vom Kinderprinzenpaar und ihren anwesenden Grundschulfreunden geschmissen wurde.

Also suche ich einfach weiter nach passenden Schuhen, die selbst der Mittlere nach Anprobieren des 282. Paar endlich findet.

Als wir uns der Kasse nähern sehe ich blanke Angst in den Augen der Schuhverkäuferin aufflackern. In Anbetracht der Tatsache, dass sich in meinem Einkaufskorb vier Paar neue Kinderschuhe befinden, sollte sich diese Angst beim Bezahlvorgang eher in meinen Augen wiederspiegeln. Ausgerechnet in dem Moment, als ich die Karte ins Lesegerät stecke, hustet der Terrorzwerg beherzt, aber unter Wahrung der gesamtgesellschaftlich vorgeschrieben Hust-und Niesettikette in die Ellbeuge. Die Verkäuferin springt unter einem lauten “Oh-oh”-Ausruf einen halben Meter nach hinten, wo sie dann selbst einen Hustenanfall bekommt, den sie in die freie Luft entlässt.

Ich erreiche unser Auto in einem einigermaßen aufgewühlten Zustand. Was sich beim Rückwärtssetzen unseres leider etwas unübersichtlichen VW-Busses rächt. Ich fahre in einem so unglücklichen Winkel in ein geparktes Fahrzeug, dass die Abstandshalter nicht piepen. Die herbeigerufenen Polizisten sind sehr nett. Zu meiner großen Überraschung erkundigen sie sich nach dem Befinden der Kinder und möchten wissen, ob sie sich durch den Aufprall arg erschrocken haben.